Helga Ruge war Berufsfotografin. Ihr Berufsleben verbrachte sie als medizinische Fotografin in Hamburg, durchbrochen von regelmäßigen Aufenthalten im großen Garten ihres Elternhauses in Plön, wo sie ihre eigene Bildästhetik entwickelte.
Helga Ruge lebte zurückgezogen. Die biografischen Einlassungen, die sie selbst für Ausstellungen verfasste, waren knapp und eng auf ihren beruflichen Werdegang bezogen. Eine der wenigen ausführlicheren Darstellungen ist Renate Lampert zu verdanken:
Helga Renate Ruge wurde am 6.3.1929 als dritte Tochter des damaligen Studienrates Walter Ruge und seiner Frau Anneliese in Kiel
geboren. Vier Jahre später zog die Familie nach Plön, wo Helga Ruge seit 1937 im Haus der Familie mit großem Garten aufwuchs. Schon im Vorschulalter zeichnete sie gern, stellte Linolschnitte her.
Fotografieren spielte in der Familie eine große Rolle, die Mutter hatte früher Aufnahmen selbst entwickelt.
Die Familie geriet in wirtschaftliche Bedrängnis, als der Vater im Mai 1945 im Krieg starb. Helga Ruge wollte möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen. Obwohl sie
gern die Schule beendet hätte, begann sie stattdessen eine Berufsausbildung als Fotografin beim Fotografen Waibel in Plön. Nach Arbeit in Berlin nahm sie eine Stelle in Hamburg an und besuchte
die Bundsfachschule des Deutschen Fotografen-Handwerks in Altona, die sie 1963 mit der Meisterprüfung abschloss.
Seitdem war sie bis zu ihrem Ruhestand 1989 Fotografin im Krankenhaus Eppendorf. Ihr Arbeitsplatz war dort die chirurgische Abteilung. Sie beschrieb ihre Tätigkeit
so: „Da sind u.a. Patienten, Operationsphasen, Präparate und Gegenstände zur Dokumentation oder Demonstration im Vorlesungsbetrieb zu fotografieren. Bildmaterial für Vorträge und
Veröffentlichungen wird verlangt. Ohne die Fotografie wären etliche Versuchsreihen in der Medizin wissenschaftlich gar nicht zu belegen.“
Renate Lampert in "Frauenleben in Plön", Kalender 2003, S. 25 f.
Neben ihrer Berufstätigkeit engagierte sie sich im „Arbeitskreis Bild im Centralverband Deutscher Photographen“ (ABCV) und erwarb durch die erfolgreiche Einreichung von drei sogenannten Jahresaufgaben das Recht, den Zusatz „ABCV“ zu führen. In der Akademie am See Koppelsberg, in Sichtweite von ihrem Garten am Kleinen Plöner See, bot sie Seminare zur fotografischen Technik und Gestaltung an. 1989 kehrte Helga Ruge ganz nach Plön zurück und lebte dort bis zu ihrem Tod 2001.
„Zum Ausgleich für zu kurz gekommenes Gestaltenkönnen und ein subjektives ästhetisches Bedürnis fotografiere ich in meiner Freizeit hauptsächlich das, was mich in der Natur anspricht. Landschaften, Bäume, Strukturen, Pflanzen. Auf Reisen und im elterlichen großen Garten am Kleinen Plöner See, in dem sich an Wochenenden Arbeit und Freude die Waage halten: in dieser unkonventionellen, z.T. mühsam bezwungenen Unordnung finden sich immer neue Motive. Der Garten gibt mir die Chance, den Wandel der Pflanzen im Verlauf eines Jahres zu beobachten.“
Während ihre berufliche Fotografie in Bezug auf Schärfe, Abbildungsmaßstab, Farbwiedergabe und Tonwerttrennung hochgradig standardisiert und kontrolliert sein musste, um medizinisch interpretierbar zu sein, war Helga Ruge im Plöner Kontext freier. Neben das dokumentarische Interesse trat die Frage der Gestaltung, und tatsächlich lässt sich in ihrer Fotografie der Versuch ausmachen, Dokumentation und Ästhetik zur Einheit zur bringen: die ausdrucksstarke Form einer Pflanze oder eines Details - und Komposition, den Beitrag der Fotografin.
Wiederholt bezog sich Helga Ruge auf Karl Blossfeldt, dessen Buch „Urformen der Kunst“ 1928 erschien. Sie bewunderte dabei die „wunderbaren, klaren, oft fast schmiedeeisern wirkenden, herausgelösten Formen“ der mit einer Großbildkamera aufgenommenen Pflanzen. Blossfeldts Herangehensweise war dabei der Schlüssel, dem Plöner Garten mehr abzugewinnen als die übliche Blüten-Idylle; durch Dekomposition der Motive, durch Unterschreitung des normalen Sichtabstandes, durch das Offenbaren von Details wurden die Aufnahmen zu Form-Studien. Blossfeldts Bildraum ist scharf und flach, es gibt keine Tiefenstaffelung von Objekten. Gerade durch diese Einheitlichkeit - den seriellen Ansatz - sollen die Konturen zur Geltung kommen, weniger die Volumen. In der isolierten Betrachtung versenkte sich Helga Ruge in die anatomische Schönheit der Pflanzenwelt.
Aus dem Zusammenhang der Negativstreifen, die notwendig den Ablauf einer Porträtsitzung wiedergeben, lässt sich ihre Arbeitsweise rekonstruieren. Sie isolierte einzelne Pflanzen oder Pflanzenteile vor einem neutralen, hellen oder dunklen Hintergrund im Studio - manchmal auch vor dem überbelichteten Himmel oder Schatten - und versuchte die ihnen eigenen Formen über Beleuchtungsvariationen herauszustellen, eine aktive Bildkomposition stand bei der seriellen Herangehensweise eher im Hintergrund.
Neben den Blossfeldt’schen, eher auf ein oder wenige Objekte konzentrierten Formstudien, begann Helga Ruge dann, „die Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung zu
fotografieren. Der durch Unschärfe aufgelockerte Hintergrund ist für mich ein zusätzliches Gestaltungsmittel.“
Mit der unvermeidbaren Umgebung wird auch die Bildgestaltung anspruchsvoller, wie Helga Ruge für eines ihrer Plein-Air-Seminare formulierte: "Kamerasehen ist total
u. objektiv, menschliches Sehen ist selektiv u. subjektiv. Es muß also ein wichtiger Lernschritt auf dem Wege zum fotografischen Sehen sein, auf alles zu achten, was im Sehbereich des
Objektives liegt, auch wenn es unbedeutend u. nebensächlich erscheint. Denn solche unbedeutenden Elemente können ein Bild verderben."
In diesen Worten zeichnet sich eine erweiterte, fast anspruchsvollere Aufgabenstellung ab. Im Gegensatz zum kontrollierten Bildraum des Studios ist die lebendige Pflanzenwelt ungleich komplexer. Die Komposition entsteht nicht durch ein künstliches Arrangement, sondern durch Position und Ausschnitt der Kamera, das Tiefenschärfekonzept und daraus resultierende, kontrastgebende Tonwertwolken im Hintergrund und die Artikulation von Formen durch die zufällige, natürliche Beleuchtung. In der Fähigkeit zu antizipieren, wie sich die Szenerie im Sucher durch chemische Prozesse in ein Negativ übersetzt, zeigt sich die Meisterschaft der Berufsfotografin Helga Ruge.
Doch Helga Ruge ging noch ein Stück weiter. Neben den Aufnahmen, in deren Zentrum ein oder zwei pflanzliche Protagonisten stehen, begann sie die Komplexität ihrer Bilder so weit zu steigern, bis die Komposition an den Rand der Fasslichkeit getrieben wird. Objekte im Vordergrund - Blätter - werden zur Projektionsfläche, das rückwärtige Licht zeichnet die Konturen der Pflanze auf diese selbst. Es entstehen faszinierende Wechselwirkungen im Auge des Betrachters: zugleich ästhetisch und anatomisch.
Im postumen Blick auf das Werk Helga Ruges stand bisher vor allem die Pflanzenwelt im Mittelpunkt. Auf dieser Website möchten wir zukünftig auch andere Themen in Erinnerung rufen, mit denen sich
die Fotografin beschäftigte: Landschaften und eindringende Landwirtschaft, Stadtbrachen und Wohlstandsmüll, Bäume, architektonische Details der Hamburger Stadtlandschaft, fototechnische
Experimente wie Sandwich-Aufnahmen und Solarisationen.
Den Anfang macht eine Auswahl von Farbaufnahmen, die in den Siebziger Jahren auf einer Reise nach Florida entstanden.
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